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"Die Bayern sind rohe Kinder der Natur ..."
Friedrich Nicolai in Bayern

Als in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Karl Heinrich Ritter von Lang seine Memoiren niederschrieb, genügte es, vom "Herrn Nicolai" ohne weitere Attribute zu sprechen. Heute jedoch ist der Name des Berliner Verlegers und Schriftstellers südlich der Mainlinie weitgehend in Vergessenheit geraten. Um uns zu informieren, müssen wir schon zum Lexikon greifen: (Christoph) Friedrich Nicolai, * Berlin 18.3. 1733, + Berlin 8.1.1811; zahlreiche Schriften u.a. literarischen, biographischen und historisch-topographischen Inhalts (z.T. in mehrere Sprachen übersetzt); Mitglied der Akademien in Berlin und München, Ehrendoktor der Universität Helmstedt.
Berühmt geworden ist der "Protagonist" der preußischen Aufklärung durch die "Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten", von 1783 bis 1796 in 12 Bänden mit über 5000 Seiten im eigenen Verlag erschienen; eine historisch-polemische Topographie, die alles bis dahin bekannte in den Schatten stellte.
In Begleitung seines ältesten Sohnes bricht Nicolai am 1. Mai 1781 auf. Von Berlin aus geht es über Thüringen nach Franken (Coburg, Bamberg, Erlangen, Ansbach, Nürnberg, Altdorf), dann ab Regensburg auf der Donau nach Wien und Pressburg. Weitere Stationen sind München, Augsburg, Südwestdeutschland, die Schweiz und Hessen. Über Hannover und Magdeburg kehren die Reisenden, die sieben Monate unterwegs sind, wieder nach Berlin zurück.
Die "Beschreibung" ist für Franken und Bayern aus mehreren Gründen interessant: einmal bietet sie uns zahlreiche heute weitgehend unbekannte Fakten, zum zweiten prägte sie nördlich des Mains wie kein anderes Druckwerk des 18. Jahrhunderts die Vorstellung vom rückständigen katholischen Süden, produzierte sie unter dem Deckmantel aufklärerischer Motive ein böses Zerrbild vor allem der religiösen Verhältnisse.
Gleichsam als Absicherung gegenüber potentiellen Kritikern macht uns Nicolai an verschiedenen Stellen mit seinen "Absichten" vertraut. Er will nicht nur umfassend informieren, sondern auch belehren und durch sein kritisches Urteil Besserung bewirken. Dem nüchternen Aufklärer sind Romantik und Sentimentalität fremd, er hasst alles Metaphysische und findet kein Verständnis für die Äußerungen christlichen Jenseitsglaubens. Wo immer sich die Gelegenheit bietet, ob in Bamberg, Passau, München oder Augsburg, kritisiert er scharfzüngig "hierarchischen Terror", Bigotterie und Jesuitenhörigkeit.
Die Begegnung mit einer nach Vierzehnheiligen ziehenden Wallfahrt markiert den Anfang von üblen Beschimpfungen, die bis Altötting nicht mehr enden werden: "Als im Jahr 1444 ein Bauer im Kloster Langheim gebeichtet, vermutlich auch ... ziemlich gezecht hatte, und ihm also die Augen gläsern wurden, geschahe es, dass ihm vierzehn Heilige auf einmal erschienen, und denen, die sie hier anrufen würden, Hülfe versprachen". Wie jedoch den frommen Pilgern geholfen wird, darüber hat Nicolai eigene Ansichten: "Sie können nun müßig gehen, zum Teil betteln, schwelgen, huren und buben ..., aber doch dabei, nach abgelegter Beichte, eine recht kräftige Absolution erhalten, welche alle Sünden gut macht". Den Klöstern wirft er bei dieser Gelegenheit vor, dass sie "die schändlichen Ausbrüche des Aberglaubens, der Dummheit und Zügellosigkeit" noch begünstigten. So könnte man seitenweise weiterzitieren. Von Toleranz, die er z.B. für Juden und Türken fordert, keine Spur. Schon Lessing monierte in einem Brief an Nicolai, dass sich die vielgelobte "Berlinische Freiheit zu denken und zu schreiben" leider nur darauf beschränke, gegen die Religion zu lästern: "Lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, ... und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischte Land von Europa ist."
Doch dieser Vorwurf berührt Nicolai als braven preußischen Untertanen nicht. Er muss zwar zugeben, dass sich's unterm Krummstab gut leben lässt, aber seiner Meinung nach ist es nur ein "Vegetieren zwischen Beten, Essen und Trinken". Um zu zeigen, wohin das letztlich führt, tischt er uns als abschreckendes Beispiel die Geschichte des Joseph Kohlnicker aus Passau auf. "Dieser berühmte Fresser" konnte Hutfilz verdauen, musste aber unter alle Speisen "Steine mengen", weil sie ihn sonst nicht sättigten.". Wissenschaftlich unhaltbar, aber immerhin amüsant zu lesen, sind die Auslassungen über katholische "Religionsphysiognomie", diese "nagelneue, ganz außerordentliche Entdeckung", die er in Bamberg macht: "Ohne das (dortige) schöne Geschlecht beleidigen zu wollen, muss ich gestehen, der größte Teil desselben war nicht schön". Die Art ihrer Nasen ließ auf Einfältigkeit schließen, "welche nach Beschaffenheit der Umstände von gemeiner Dummheit bis zur Naivität abgestuft sein kann". Er glaubt einen "innigen katholischen Augenaufschlag, den man in protestantischen Ländern gar nicht kennet", feststellen zu können. Hinzu kommt noch eine "besondere Falte" um den Mund, die man an "niemand als an eifrigen Katholiken bemerkt". Sie rührt vom "beständigen Murmeln der Gebete" her.
Sein Faible vor allem für die weibliche Physiognomie verleitet Nicolai immer wieder zu geschmacklosen, ja bösartigen Äußerungen. Im Passauer Dom belauert er eine Betende. "Sie schlug ihre schwarzen Augen auf eine Art in die Höhe, wie nur katholische Augen aufgeschlagen werden ... Ich sah mit Verwunderung ihren ganzen Körper in einer sonderbaren Art von Bewegung, ihre zarten Füße, bloß von einem seidenen Strumpfe bekleidet (denn in der Fülle ihrer Andacht hatte sie die Pantoffeln fallen lassen), lagen übereinander, und waren in beständiger konvulsivischer Bewegung."
Ein späterer Kritiker bemerkt recht reffend, Nicolai betrachte die Katholiken wie exotische Tiere hinter Gittern, wie Affen, an denen "alles possierlich ist". Vielleicht haben wir es hier auch mit einer speziellen Variante des Voyeurismus zu tun, Peep-Show für Puritaner? Doch wir wollen ihn nicht unnötig diffamieren. Nicolais Charakter ist integer, seine Moral sauber, nicht nur in sexualibus. Mit Hühnerblut ist die Pistole seines "Werther" geladen; der Held stirbt nicht wie bei Goethe schändlich von eigener Hand, sondern an Altersschwäche, im Kreise von acht Kindern, die ihm Lotte in jährlichem Abstand schenkte.
Goethe musste diese Parodie verdrießen. Als Nicolai dann während seines Tübingenaufenthalts Schillers "Horen" kritisierte, taten sich die beiden Dichterfürsten zu poetischer Koproduktion zusammen, um es ihrem "Feind" heimzuzahlen. Auf einen Schlaganfall anspielend lästerten sie:
"Rührt sonst einen der Schlag, so stockt ihm die Zunge gewöhnlich,
Dieser, so lange gelähmt, schwatzt nur geläufiger fort."
Auf diesem Niveau wollen wir uns mit dem "Champion der Aufklärung" (Heine) nicht auseinandersetzen. Lässt man nämlich die tendenziöse Einseitigkeit der Themenauswahl und den immer wieder aufflackernden Antikatholizismus der Reisebeschreibung beiseite, dann bleibt doch eine Fülle von kulturgeschichtlich wichtigen Informationen, die als Quelle bisher viel zu wenig beachtet worden sind. So haben ihm seine statistischen Angaben, die er unmittelbar aus Geburts- und Sterbelisten schöpft, hohes Lob der modernen Bevölkerungswissenschaft eingetragen. Auch auf die sozialen und medizinischen Zustände der einzelnen Städte geht er z.T. ausführlich und mit kritischem Sachverstand ein, ob er nun Verbesserungsvorschläge für den Arbeitsschutz in einer Nürnberger Brillenschleiferei macht oder die hohe Säuglingssterblichkeit in Ulm auf die "Verfütterung" der Kinder mit Mehlbrei zurückführt.
Damit wären wir bei den Aktivposten. Daraus nur einige kurze Passagen, die von der Begegnung mit berühmten Zeitgenossen handeln. Als Nicolai in Coburg die "nötigsten Sachen besorgt" hatte, war sein "erstes Geschäft, Menschen zu sehen", u. a. den Geheimrat Thümmel, die "vornehmste Zierde" der Stadt, ein "Mann von ausgezeichneten Talenten und von dem feinsten Geschmacke". Nicolai ist sich unschlüssig, was er mehr bewundern soll, den "witzigen" Hausherrn oder dessen Gemahlin, "eine schöne und geistreiche Dame".
Ausführlich beschreibt er seinen Besuch bei dem berühmten Dichter Uz. "Die Hauptabsicht meiner Reise nach Ansbach war, meinen vieljährigen würdigen Freund ... persönlich kennen zu lernen". Er ist ein "vortrefflicher Mann, vortrefflich durch seine unsterblichen Werke, durch seine mannigfaltigen Einsichten und durch sein redliches Herz." Den Vorwurf, er lobe einen angestaubten, unmodernen Autor, weist er energisch von sich: "Der schlichte Verstand und der philosophische Geist bleibt sich, auch in Gedichten, Jahrhunderte lang gleich." Im Kloster Banz trifft er den Bibliothekar Placidus Sprenger. Nicolai hält ihn für einen der "gelehrtesten" katholischen Theologen. Ausführlich lobt er dessen Zeitschrift "Literatur des katholischen Deutschlands". Auch als dort die "intolerante Gesinnung" der Reisebeschreibung kritisiert wird, hat das keinen Einfluss auf die weiteren guten Beziehungen. Überhaupt muss gesagt werden, dass der Aufenthalt in Banz, ähnlich wie später in St. Blasien, zu einer differenzierten, überwiegend positiven Beurteilung des Mönchtums führt: "Es ist gewiss, wenn man es von der vorteilhaftesten Seite ansehen will, so muss man es zu Banz sehen". Dennoch atmet er auf, als die Stunde des Abschieds naht. "Ich wünschte meinen gelehrten Freunden in dem schönen Banz" Lebewohl, "aber ich fühlte mich leichter, dass ich in freier Luft war".
Nicht eingegangen werden kann auf die umfangreichen Beschreibungen der größeren bayerischen Städte, sie würden ein ganzes Buch füllen. In München z.B. überrascht ihn zwar die "Freimütigkeit im Denken" mancher Gelehrter, dennoch sieht er allerorten "stumpfe Bigotterie" und "niederträchtige Denkmale des Aberglaubens". Eine Pointe am Rande: Die Kurfürstl. Akademie der Wissenschaften hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihrem Gast die Mitgliedschaft anzutragen. Als die Münchner zwei Jahre später lasen, was Nicolai ihrer Stadt an Spott und Kritik zudachte, hätten sie die Aufnahme gern rückgängig gemacht.
Bevor wir den streitbaren Aufklärer, der seine Feder mit dem Charme eines Spiegelredakteurs führte, wieder dorthin begleiten, wo er hergekommen ist, nämlich nach Berlin, noch eine Anregung! Vielleicht findet sich einmal ein Verleger, der die fränkischen und bayerischen Teile der Reisebeschreibung herausbringt, und zwar gekürzt um die zahllosen Beigaben, "antikatholischer" Propagandamittel" und umfangreichen Auseinandersetzungen mit den Gegnern; darauf können wir im Tausch gegen gute Lesbarkeit leicht verzichten. Die pikanten und kritischen Stellen werden wir heutzutage wohl verkraften.
Diese Compact-Edition könnte damit beginnen, wie Nicolai im Thüringer Wald den sog. Coburger Pass überschreitet: "Der Pass, der mit einem Tore und Schlagbaum versehen ist, war mit einem Korporal und vier Mann Meiningscher Soldaten besetzt, welche, wie wir, friedfertig waren, und uns ohne Umstände unsern Weg verfolgen ließen ..."
(Hans Baier Manuskript)


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