Weiterer Text
"... der Tod des Lebens Kern!"
Sterben und Jenseits bei Rückert
Rückert hat uns im Jubiläumsjahr 1988 recht in die Pflicht genommen. Konzerte und Ausstellungen haben wir über uns ergehen lassen, die Strapazen des Rückertwanderwegs nicht gescheut, gestärkt mit Rückertwecken und Rückertwurst. Bei allem Bemühen bleibt dennoch ein zwiespältiges Fazit des Jubeljahrs zu ziehen. Es stellt sich die Frage: Was hat uns ein Dichter, dem der Ruch des "Goldschnittlyrikers" anhaftet, in einer Zeit der konkreten Poesie, des literarischen Experiments noch zu sagen?
Wer sich Rückert nähern will, kann dies auf zweifache Weise tun. 1. Man beuge sich dem Diktat der Auswahl (u. a. Insel, Reclam). 2. Man gehe den mühsamen Weg zu den Quellen. Wer vor der Fülle des Gedruckten nicht kapituliert - allein die Lyriksammlung von 1836 umfasst über 2800 Seiten -, der wird für seine Anstrengungen auf vielfältige Weise entschädigt.
In einer Art "poetischem Tagebuch" hat der Dichter seine Erlebnisse und Erfahrungen "minutiös" festgehalten. Ein Thema taucht in immer neuen Variationen auf: die unmittelbare Erfahrung von Sterben und Tod. Bruder und Schwester, drei Kinder und die Frau sind vor ihm gestorben. Und die Jugendliebe Agnes Müller, die auf dem Rentweinsdorfer Friedhof begraben liegt. Im Sonettenkranz ,Agnes' Totenfeier" lebt das Andenken an die "Allerschönste" fort.
1821 heiratet Rückkehrt die Coburgerin Luise Wiethaus-Fischer und siedelt 1826 als Professor für orientalische Sprachen nach Erlangen über. Die ersten umfangreichen Veröffentlichungen erscheinen und machen seinen Namen rasch bekannt. Doch in den Ruhm mischen sich Tränen. Am Silvestertag 1833 stirbt sein dreijähriges Töchterchen Luise an Scharlach. "Gott verschone uns mit mehr Leid!", klagt er - vergebens. Zwei Wochen später muss er auch seinen Sohn Ernst, der eben fünf Jahre alt geworden war, begraben.
Jene schweren Tage haben sein Leben verändert, sein Haar ist grau geworden. Die Trauer versucht er, in den berühmten "Kindertotenliedern" zu bewältigen. Wohl nirgends in der deutschen Literatur ist der Tod ergreifender geschildert worden als in den Versen:
"Du bist ein Schatten am Tage
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht."
Fünf von den über 400 Gedichten hat Gustav Mahler vertont, darunter: "Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen, Bald werden sie wieder nach Haus gelangen. Der Tag ist schön, O sei nicht bang ..."
Und dann die tröstende Erkenntnis:
"Sie sind uns nur vorausgegangen."
1841 nimmt Rückkehrt eine Professur in Berlin an. Sie hätte Krönung seiner Laufbahn werden sollen. Doch der Sonderling aus der fränkischen Provinz kann in der Großstadt nicht heimisch werden. Von der mondänen Gesellschaft bespöttelt und heimwehgeplagt sucht er um seine Pensionierung nach. Der preußische König erfüllt seine Bitte. Ab 1848 hält er sich auf seinem Gut in Neustes bei Coburg auf. Doch die biedermeierliche. Enge kann ihn nur äußerlich gefangen halten. Sein Geist bricht auf zu wahrhaft "kosmopolitischen Wanderungen" in das Zauberreich des Orients. Seit 1818 hat er sich über 40 Sprachen angeeignet, darunter so ausgefallene wie Azeri, Prakrit und Telugu. Perle um Perle reiht er nun aus dem unerschöpflichen Schatz der arabischen und persischen Poesie: Meisterleistungen der Übersetzung und Sprachkunstwerke gleichermaßen. Und man kann sich keinen reizvolleren - und pikanteren - Kontrast vorstellen: hier der Familienvater, der sein Glück in der Dorfidylle fand, dort der weltgewandte Hafis, der in seinen Liedern das leichte Leben und die käufliche Liebe preist.
Es wird nicht nur eine Begegnung mit fremden Literaturen, sondern auch mit den östlichen Religionen, die sein Denken und Dichten beeinflusst. Rückkehrt ist ein gläubiger Mensch, doch sein Glaube trägt pantheistische Züge und entfernt sich damit immer mehr von der protestantischen Orthodoxie.
1857 stirbt nach langem schweren Leiden seine Frau, noch nicht einmal einundsechzigjährig. Eines der schönsten Altersgedichte ("Ist dort auch Frühling?") entsteht nach einem Besuch an ihrem Grab. 1865 wird er selbst mit dem Tod konfrontiert, Diagnose Darmkrebs:
"Unangemeldet ist ein Gast, ein schweigender, ins Tor getreten, Hat finster um sich hergeblickt, dass alle Kerzen düster brannten ..."
Er schickt sich ins Unvermeidliche, in die Vergänglichkeit des Lebens:
"Alles, o Herz, ist ein Wind und ein Hauch, Was wir geliebt und gedichtet ..."
War sein Werk wirklich nur ein Wind, ein Hauch, von der Zeit verweht? Teilte er das Schicksal seiner Zeitgenossen (und Freunde) Kerner, Platen, Uhland? Nein! Allein die Nachdichtungen, die Vermittlung fremden Sprachguts, verhalfen ihm zu einem außergewöhnlichen Rang in der Literatur, ein Rang, der uns heute noch bewusster wird, da die Bedeutung der arabischen Länder eine schicksalhafte Dimension angenommen hat und ihre Kunst und Kultur erneuter Hinwendung und veränderter Interpretation bedarf.
Rückkehrt hat sprachmächtige Brücken in die Welt des Islams, des Orients gebaut. Dort bei einem arabischen Dichter des 12. Jahrhunderts fand er Trost bei seinem eigenen Sterben, fand er die Antwort auf die ewige Menschheitsfrage nach Jenseits und Wiederkehr:
"Sagt meinen Brüdern, die mich Toten sehen:
Ich bin nicht dieser Tote, den ihr seht.
Ich bin der Vogel, und der Käfig das,
Dem ich entflog, und der nun öde steht.
Ich bin der Schatz, und mein Verschluss ist hin,
Bin Staub, der auf nun in Verklärung geht.
Ich danke Gott, dass er mich frei gemacht
Und meine Wohnung hat zu sich erhöht."
(Hans Baier in: St.-Heinrichskalender 1990)
Wir freuen uns auf Ihre Nachricht! Schreiben Sie uns: frankenbaier@gmx.de
Vielen Dank!
Ihr
Hans Baier